Abtreibung: Betrachtungen zu der Situation in der Schweiz

June 16, 2025

Ungewollt schwanger. Diese Nachricht wirkt nicht nur im Moment sondern beeinflusst die Zukunft der Frau und die des ungeborenen Kindes. Was bedeutet das für die Frau? Wie schützt man das ungeborene Leben? Welche Gedanken macht sich die Frau?  Was sagt das Gesetz, was die Kirche? In dieser Reportage betrachten wir Fragen rund um die Abtreibung. 

“Viele Eltern sprechen schon während der Schwangerschaft von ihrem Kind” – Anonym 

Obwohl das Kind noch nicht auf der Welt ist und einige Menschen dies noch gar nicht als Kind oder als Leben bezeichnen, verspürt die Mutter bereits eine emotionale Bindung zu ihrem Kind. 

«Dieses Kind ist ein Teil von mir, obwohl es noch nicht geboren ist, spüre ich dennoch bereits seine Existenz. In ein paar Monaten wird es zu einem eigenen kleinen Menschen heranwachsen und bald sein eigenes Leben führen, seine eigenen Gefühle haben.» 

Aus medizinischer Sicht wird das ungeborene Leben in den ersten acht Wochen als Embryo und ab der neunten Schwangerschaftswoche als Fötus bezeichnet. In der Realität hat jedoch jeder eine andere Vorstellung dazu, etwa wann das Leben anfängt, und ob überhaupt und bis wann es allenfalls vertretbar ist, eine Schwangerschaft abzubrechen. 

Ungewollte Schwangerschaft 

«Vor ein paar Tagen erfuhr ich, dass ich schwanger bin. Mit dieser Nachricht habe ich zu diesem Zeitpunkt als letztes gerechnet. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Wie soll ich bloss eine Entscheidung treffen, die nicht nur das Leben meines Kindes, sondern auch meine Zukunft betrifft und diese grundlegend verändert?» 

Bei einer ungewollten Schwangerschaft weissen einige Frauen nicht, was sie tun soll: Was gibt es für Möglichkeiten? Wer berät darüber? Was sagt das Gesetz? Wie ist die familiäre Situation? Gibt es medizinische Aspekte? Was sagt die Familie? Ihr Umfeld? Was ist die Haltung der Kirche? 

In den folgenden Abschnitten haben wir uns mit diesen Punkten befasst und uns mit mehreren Personen zum Thema ausgetauscht.  

Wann entsteht Leben? 

Zu dieser Frage hat jeder seine eigene Vorstellung, und damit verbunden auch eine entsprechende Haltung zur Frage der Abtreibung.  

Einige sehen den Embryo bereits als Kind an, da er in dieser Zeit bereits Organe entwickelt. Das Herz beginnt zum Beispiel bereits in der fünften bis sechsten Schwangerschaftswoche zu schlagen, zu diesem Zeitpunkt kann man mit dem Ultraschall auch schon den Embryo erkennen. Ab der 20. Schwangerschaftswoche kann der Fötus Berührungen wahrnehmen und ab der 24.-28. Schwangerschaftswoche Geräusche. Nach der 24. SSW kann ein geborenes Kind auch ausserhalb des Mutterleibs mit medizinischen Massnahmen überleben.  

Erwünscht, aber nicht nach Plan 

Die Frage nach Abtreibung oder nicht kann aber auch einige Zeit nach der Feststellung der Schwangerschaft plötzlich zum Thema werden. Nämlich dann, wenn bei einer der Vorsorgeuntersuchungen etwas Aussergewöhnliches festgestellt wird.  

«Darf ich darüber nachdenken, es nicht zu bekommen? Dies ist eine der vielen Fragen, die mir in den Kopf kommen, während ich in der Arztpraxis die schreckliche Neuigkeit erfahre. Ich erfahre das mein Kind Trisomie 21 hat.» 

Heute sah ich im Bahnhof tatsächlich eine Person, die von Trisomie 21 betroffen ist. Und dies zum ersten Mal. Heutzutage sieht man fast kein Kind mehr mit Trisomie 21. Denn dank der Vorsorgeuntersuchungen kann man früh in der Schwangerschaft Trisomie 21 und Fehlbildungen erkennen. Und somit die Frau vor die Wahl stellen, sich für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden. Ich dachte mir: «Wenn ich Trisomie 21 hätte, wäre ich dann heute am Leben?» 

Eine Auswertung in Dänemark im Jahr 2017 zeigt, dass 95% der Eltern, die einen positiven Trisomie 21 Bescheid erhielten, sich für eine Abtreibung entschieden haben.   

Während bei einer ungewollten Schwangerschaft die Frau meistens allein über eine Abtreibung entscheiden muss, müssen sich nach einer schlechten Diagnose beide Elternteile mit dieser Frage auseinandersetzten. Denn die Schwangerschaft ist erwartet, das Kind gewünscht. Aber ist es auch erwünscht, wenn es nicht gesund ist? 

Die schwere Entscheidung  

Eine Abtreibung bringt emotionale Folgen mit sich und deshalb ist es wichtig, dass die Person, die mit den Konsequenzen leben muss, auch die Entscheidung selbst trifft. Ausserdem kennt niemand die persönliche Situation so gut wie man es selbst tut. 

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst über seinen eigenen Körper zu bestimmen, eine Schwangerschaft betrifft den Körper und die Psyche stark, also sollte die betroffene Person diese Entscheidung selbst treffen.  

«Dann blendet man völlig aus, wie es der Mutter geht» - Michel Wuillemin 

«Jeder sagt, es sei meine Entscheidung, doch weshalb fühlt es sich dann so an, als würde mich jeder dafür verurteilen? Ich weiss, dass ich nicht bereit dazu bin ein Kind grosszuziehen, diese riesengrosse Verantwortung zu übernehmen. Aber trotzdem bleibt die leise Stimme in meinem Kopf die mich fragt, ob ich wirklich das Richtige getan habe.» 

Eine solch schwere Entscheidung betrifft das ungeborene Leben und die Mutter. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, verändert das das Leben der Mutter fundamental, nicht nur kurzfristig, sondern lebenslang. Da wären gesundheitliche, finanzielle, berufliche so wie ganz persönliche Aspekte. 

Mord oder Liebe? 

«Abtreibung ist Mord! Dies habe ich nun schon zwei Mal zu hören bekommen. Und das von den Menschen, von denen ich dachte, ich könnte mich auf sie verlassen. Haben sie überhaupt versucht meine Perspektive zu verstehen? Ich fühle mich betrogen.» 

Diesen oder eine ähnlichen Satz haben wahrscheinlich viele schon einmal gelesen oder gehört, sei es im Internet, in der Öffentlichkeit oder sogar von Bekannten. Obwohl es klar ist, dass diese Aussage nicht stimmt, hat man diese Behauptung im Hinterkopf, falls man einmal vor dieser schweren Entscheidung steht. Doch könnte man nicht auch sagen, dass Abtreibung mit Liebe zu tun hat?  Dass man sich sowohl um das ungeborene Leben als auch um sich selbst sorgt? Diese Perspektive wird deutlich seltener eingenommen als die oben gennannte, doch sie ist genauso berechtigt.  

Die Frau macht sich schliesslich Gedanken um ihre Zukunft, ihr Leben, nimmt auch die Perspektive des Kindes ein und wägt ab. Am Schluss steht ein Entscheid, der sicherlich nicht egoistisch und hastig getroffen wurde. Sondern mit Emotionen und mit allen Möglichkeiten in diesem Moment hatte.  

Verurteilung in der Gesellschaft 

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Meinung zum Thema Abtreibung immer wieder verändert. Die öffentliche Einstellung zu diesem kontroversen Thema ist aber liberaler geworden. 

Seit einigen Jahren geht man offener mit diesem Thema um als noch vor ein paar Jahrzehnten, wie uns Michel Wuillemin in unserem Interview mitgeteilt hat. 

In den meisten Europäischen Ländern ist die Abtreibung legalisiert, es gilt oft eine Fristenlösung ähnlich wie in der Schweiz.   

Trotz dieser Fortschritte gibt es Länder, welche die Abtreibungsfrage wieder verschärft haben wie die USA oder gar verboten haben wie zum Beispiel Polen.  

Es gibt Länder, in denen das Thema Abtreibung nach wie vor umstritten ist, sei es wegen der Religion oder weil die liberale Haltung wieder verschärft wurde. In einigen Ländern existieren Aufklärungs- und Unterstützungsangebote, in anderen Ländern sind diese ganz verboten. In der Schweiz geht man mit diesem Thema offen um. Die Schwangere kann sich für diese schwierige Entscheidung Rat und Hilfe von Freunden und Fachpersonen holen. Offene Gespräche können der Betroffenen helfen eine Entscheidung zu treffen. 

Sünde oder nicht? 

Du sollst nicht töten. Mit Bezug auf dieses Gebot, stellt sich die katholische Kirche gegen die Abtreibung. Papst Franziskus hat Abtreibung sogar schon einmal mit einem Auftragsmord verglichen.  

«Es ist Sonntagmorgen und ich sitze in der Kirche. Der Priester spricht über Abtreibung. Von aussen merkt man mir nichts an, doch innerlich fühle ich mich sehr betrogen, als er sagt, dass die katholische Kirche Abtreibung nicht akzeptiert. Ich habe mich immer wohl gefühlt in der katholischen Kirche, ich hatte jemanden, mit dem ich reden konnte. Doch mit wem rede ich jetzt über diese Entscheidung, die mir bevorsteht?» 

Anders sieht es die reformierte Kirche die keine festen Regeln zum Handeln der Frau vorgibt. Der reformierten Kirche ist wichtig, dass der Entscheid nicht leichtfertig und schnell getroffen wird. Deshalb bietet sie auch Beratungsgespräche an und vertraut darauf, dass die Frau die richtigen Abwägungen macht, wie uns Pfarrer Michel Wuillemin mitteilt. Ihn trafen wir für ein Interview im Pfarrhaus Belp. Michel Wuillemin arbeitet seit ungefähr 30 Jahren als Pfarrer und erzählt uns von seinen Ansichten zur Abtreibung. In den USA ist die Frage der Abtreibung durch die christlichen Kreise wieder verschärft worden. Wir haben uns gefragt, ob dies auch in der Schweiz geschehen könnte. Herr Michel Wuillemin verneint. Die reformierte Kirche stehe der Abtreibung neutral gegenüber. Er erzählt uns von Frauen, die zu ihm kamen, um mit ihm darüber zu sprechen. Nicht aber wegen seiner religiösen Meinung, sondern wegen seiner persönlichen Haltung.  

Das reformierte Pfarrhaus in Belp 

Umstritten 

In der Schweiz ist die Frage der Abtreibung umstritten. Es gibt keine namhafte Bestrebungen für ein Abtreibungsverbot und auch keine für eine weitere Lockerung. Mit der Fristenregelung hat die Frau die Wahl, nach Ablauf der Frist ist das ungeborene Leben geschützt. Wie auch immer sich die Frau entscheidet, leicht wird sie es sich nicht machen. Wichtig ist, dass sie alleine entscheiden kann. Entscheiden muss.  

Die aktuelle Rechtslage in der Schweiz 

In der Schweiz ist der Schwangerschaftsabbruch im Artikel 119 geregelt. Ein Schwangerschaftsabbruch straflos möglich, wenn dieser medizinisch notwendig ist oder aufgrund einer seelischen Notlage. Der Schwangerschaftsabbruch darf bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Bevor der Eingriff stattfindet, muss ein Beratungsgespräch mit einem Arzt oder einer Ärztin durchgeführt werden. Über dieses Gesetz konnte das Volk am 2. Juni 2002 abstimmen und es trat am 1. Oktober 2002 in Kraft.